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Wenn es dabei bliebe
Als Kind hatte ich einen ungeheuren Hang zum Realismus. So war
es mir geradezu unerträglich, wenn jemand bei Spielen wie Cowboy
und Indianer, Piraten, Ritter oder welchen Szenarien auch immer
durch den Versuch aus der Rolle fiel, Handlungsstränge oder Requisiten
in das Spiel einzubringen, die nach meinem durch eingehende
Sachbuch- und Lexikalektüre geschultem, historischkritischen Verständnis,
mit der simulierten Situation nicht vereinbar waren. Auch
wenn es gerade ein Anzeichen kindlicher Kreativität sein mag, sich
nicht einfach irgendwelchen Regeln unterzuordnen, so war es nach
meiner Vorstellung passender, die Menge der möglichen Handlungsvariationen
durch gewisse Vorgaben zu beschränken. Vampirund
Superheldenspiele haben mich nie gereizt und das tragische
Scheitern empfand ich gegebenenfalls als bedeutend würdevoller,
als einer Übermacht bis an die Zähne bewaffneter Banditen durch
plötzliche Kugelfestigkeit zu entgehen.
Da mein Elternhaus recht abgelegen war, spielte ich ohnehin viel
allein. Einen großen Teil meiner Zeit verwand ich darauf, mir die
notwendigen Requisiten - Federschmuck oder Ritterhelme - sowie
die nötigen Behausungen zu bauen. Jedes Szenario verlangte
nach bestimmten, unabdingbaren Utensilien, die eine Art Rahmen
oder Gerüst bildeten, welche dann im Spiel mit Leben gefüllt
werden konnten.
Präsentierte ich die Ergebnisse meiner Ausstattungsarbeiten meinen
Eltern, quittierten sie diese oft mit der Feststellung: „Du bist ein
richtiger Künstler.“ Wenn ich auch keinerlei Vorstellung davon hatte,
was dies konkret heißen sollte, so erfüllte mich diese Reaktion
doch immer mit der Überzeugung, daß meine Eltern die Notwendigkeit
der von mir vorgeführten Anfertigungen verstanden.
Ich glaube zwei grundlegende Dinge habe ich damals für mich herausgefunden
und begonnen eine Haltung ihnen gegenüber bzw. einen
Weg mit ihnen umzugehen zu entwickeln. Erstens: man muß
im Leben Widersprüche aushalten; zwar kann man die genaueste
Vorstellung davon haben, wie man ein Seeräuberschiff fährt, von
den notwendigen Mitspielern muß dies aber nicht unbedingt genauso
gesehen werden, und Zweitens: wenn man sich seine eigene
Welt baut, ist man dabei nicht nur auf die, die man kennt, als
Ideenquelle angewiesen, sondern auch davon abhängig wie sich der
Karton falten und kleben läßt und wie viele Decken man auftreiben
kann.
So stellt sich mir das wenigstens in meiner Erinnerung dar. Wobei
das mit der Erinnerung auch so eine Sache ist. Weiß ich sicher,
daß an diesem einen Morgen die Einfahrt mit winzigen Fröschen
übersät war? Und wenn es stimmt, kann ich mich an meine eigene,
direkte Erfahrung erinnern, oder ist mir dieses Ereignis einfach viel
zu oft erzählt worden, um es vergessen zu können? Letztlich kann
ich dies nicht beantworten und doch habe ich ein Bild einer, die
schräge Einfahrt hinab, durcheinander purzelnden Masse fingernagelgroßer
grün-schwarzer Frösche vor mir.
Wir erinnern uns in Bildern. In einem großen Fundus sind sie teils
wohl geordnet mit Angaben zu Ort, Zeit und Anlaß gut archiviert
jederzeit verfügbar. Andere wiederum fallen uns unverhofft in die
Hände, obwohl wir vielleicht gewünscht hatten, es gäbe sie überhaupt
nicht mehr. Von manchen sind wir sicher, daß es sie irgendwo
geben muß und dennoch bleiben sie unauffindbar.
Wir können nur das denken, was bereits gewesen ist. Zwar sind wir
in der Lage etwas zu imaginieren und in die Zukunft zu projezieren,
doch dies speist sich immer nur aus dem, was wir schon wissen.
Um dieses Wissen nutzbar zu machen, müssen wir es strukturieren.
So erschließen sich Kinder in ihrer Entwicklung komplexe Sachverhalte
und Situationen, denen sie in der Welt begegnen, nach
Auffassung der Kognitionswissenschaften dadurch, daß sie sie als
Szenarien zusammenfassen. So gibt es beispielsweise das Szenario
„Restaurant“. Dazu gehören der spezielle Ort des Speisesaales mit
seinen vielen Tischen, der Kellner, das Bestellen der Mahlzeit und
deren Verzehr, womöglich mit Dessert, vielleicht auch ein Gang auf
die Toilette usw. bis hin zum Bezahlen, der Nachfrage des Kellners,
ob denn auch alles zur Zufriedenheit gewesen wäre und schließlich
das Verlassen des Lokales. Welche Elemente jedoch zwingend vorhanden
sein müssen, damit ein Szenario komplett ist und der Kategorie
„Restaurant“ zugeordnet werden kann, ist nicht genau festzulegen.
Es kommt bei der Entscheidung, ob etwas Restaurant ist oder
nicht, auf das Zusammenspiel der vorhandenen Elemente an. Aber
auch wenn weder das Kind noch der wissenschaftliche Beobachter
die notwendigen Bedingungen für die Kategorie Restaurant im
einzelnen benennen können, so ist das Kind dennoch sehr bald in
der Lage mit großer Sicherheit einen Restaurantbesuch als solchen
zu identifizieren. Es hat sich sozusagen ein Bild gemacht. Dieses ist
einerseits klar umrissen, andererseits jedoch offen.
Die Fähigkeit Bilder zu machen, kann als eine für den Menschen
grundlegende betrachtet werden. Paradigmatisch ist hierfür die von
Hans Jonas [Die Freiheit des Bildens] geprägte Auffassung, nach der
die Bedingungen der Möglichkeit von Bildproduktion identisch mit
den Bedingungen der Möglichkeit bewußter menschlicher Existenz
sind. Vilém Flusser sieht in der Fähigkeit zur Schaffung von Bildern
die spezifische menschliche Tätigkeit noch vor dem Sprechen [Eine
neue Einbildungskraft, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur
Poetik]. In seiner Erklärung führt er als Beispiel das sprichwörtliche
Urbild, zumindest in der westlichen Vorstellung, an: das Bild des
Ponys an der Höhlenwand von Peche-Merle. Ein Bild von etwas zu
machen, bedeutet sich dem Gegenstand gegenüber zu stellen, ihn
als etwas von sich verschiedenes zu betrachten. Dazu muß ich aber
auch von mir selbst zurücktreten, sozusagen aus dem Kontinuum
der reinen Existenz. Das ist letztlich das, was mit Subjektivität bezeichnet
wird. Dieser Akt der Vermittlung, der Abstraktion, scheint
somit das Interessante an Bild, das, was es „ist“, zu sein. Bilder sind
wie Sprache etwas Zeichenhaftes, ihr jeweiliger Bezug kann jedoch
nicht völlig frei von uns bestimmt werden. Sprache und Bild sind
in gleicher Weise Grundlagen und Ausdruck unseres Denkens; von
uns gemacht und uns gleichzeitig unmittelbar gegeben, haben sie
eine eigene Existenz.
Wir sind in uns vermittelte Wesen, die in einem immerwährenden
Gegensatz leben, wir sind unmittelbar und gleichzeitig zurückgetreten
von uns selbst, uns selbst beobachtend und entwerfend. Das
Hin- und Herpendeln über diese Grenze macht unser Sein aus.
So formen wir unser Bild von uns selbst, unsere Träume und Utopien
aus dem Vergleich zwischen dem, was wir jeweils gerade sind,
dem was wir waren und dem Anderen, was uns umgibt.
Das Interesse an diesem immer wiederkehrenden Selbstentwurf,
dem immerwährenden Versuch das Bild, das wir uns von der Welt
machen, mit jenem in Deckung zu bringen, das wir gerade wahrnehmen,
ist das, was meine Arbeiten verbindet. Als Bezugspunkt für
die Überprüfungen, denen unser Selbstbild immer wieder unterzogen
wird, dienen uns die verschiedensten Referenzen: von unserem
direkten Gegenüber bis hin zu fiktiven Bildern aus allen nur denkbaren
Quellen, von vager Überlieferung, der Literatur und Kunstgeschichte
bis hin zum Kino und der Werbung. Genauso können
mir als Ausgangspunkt für ein Bild die verschiedensten Materialien
dienen: von autobiographischen Aspekten über selbst Beobachtetes
meiner alltäglichen Umwelt bis hin zu genannten Dingen wie Literatur,
Kino oder Bildern der Kunstgeschichte.
So verbinden sich für mich etwa in „Lappalie“ Darstellungen Kämpfender
auf antiken Tempelfriesen und Schlachtengemälden, etwa
des Barock, mit der Erinnerung an meine eigene Schulzeit.
Bei „Personne“ z.B. ist die auslösende Bildvorlage sehr konkret und
wird in dem kleinen Bild des über den Strand rennenden Jungen
entschlüsselbar, auch wenn das endgültige Bild vielleicht etwas anderes
verhandelt als die Vorlage.
Einen weiteren Punkt, der die verschiedenen Bilder, wie auch immer
ihre Entstehung motiviert sein mag, miteinander verbindet, bilden
die Auswahl der Handlungsorte und Darsteller bei meiner Arbeit.
Hier kommt wieder der gleiche Aspekt zur Geltung, der für die
Spiele meiner Kindheit verantwortlich war: beide, sowohl die für
die Handlung ausgewählte Szenerie als auch die sie ausführenden
Protagonisten müssen mir glaubhaft im Sinne einer realistischen
Darstellung erscheinen. Der Ort und die Darsteller tragen sozusagen
Wissen in sich. Dass es sich in allen Fällen um Laiendarsteller
handelt, unterstützt dies meiner Auffassung nach. Gespielt wird dadurch
nur das, was auch erfahren wurde.
So entstehen zwei Ebenen von Szenarien. Einerseits das von mir
entworfene und andererseits das der im Bild agierenden Personen,
die ihren eigenen Illusionen und Vorstellungen unterliegen. Sie
überlagern sich und zeichnen so in meinen inszenatorisch-fiktiven
Arbeiten ein Bild, das unser Gehetztsein, das oft vergebliche Hinterherlaufen
hinter den Wünschen, Träumen, Neurosen und Utopien
unseres Lebens zu fassen versucht, vom Einkauf des richtigen
Hemdes bis zum Scheitern des lange ersehnten und mit großen Erwartungen
verknüpften Discobesuchs.
Ich bewege mich dabei in einem Feld, das um etwas kreist, daß man
als zeitgenössisches Historienbild bezeichnen kann. Ein solches Bild
soll einerseits etwas über die Zeit, in der es entstanden ist transportieren
und andererseits darüber hinaus gehen und einen eigenen
Sinn entfalten.
A.D. Coleman machte sich in seinem 1976 erschienen Aufsatz „Inszenierte
Fotografie – Annäherung an eine Definition“ daran, das,
was er als „directorial photography“ bezeichnete gegenüber den zwei
anderen Richtungen, der straight photography und der streng dokumentarischen
Haltung aufzuwerten und zu verteidigen.
„Sehen heißt Glauben ist ein blinder Fleck in der Sehweise des Menschen“
zitiert er Buckminster Fuller und stellt fest, daß es ohnehin
nicht möglich sei, so etwas wie manipulative Unschuld zu behaupten,
wenn man einer fließenden und beweglichen, dreidimensionalen
Welt ein statisches, zweidimensionales Bild entnimmt.
Wie funktioniert nun aber unsere Erinnerung, das Bild, das wir uns
von der Welt machen?
Man kann diese Frage nicht anders beantworten, als sich dieses Bild
immer wieder zu machen.
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